Die Kunsthalle München präsentiert gerade die erste große Retrospektive des niederländischen Modeduos Viktor&Rolf in Deutschland. Seit mehr als drei Jahrzehnten arbeiten Viktor Horsting und Rolf Snoeren auf der Nahstelle zwischen Haute Couture und Kunst. Für ihre unkonventionelle Herangehensweise an das Modedesign werden sie gefeiert: Stars wie Madonna, Tilda Swinton, Lady Gaga, Doja Cat und Cardi B tragen ihre Roben. Sie schaffen Ballettkostüme oder Ausstattungen für Bühnenwerke wie der romantischen Oper "Der Freischütz" unter der Regie von Robert Wilson. Die Münchner Schau zeigt 100 ihrer gewagtesten Kreationen, die von Videos, Zeichnungen und Installationen begleitet werden. So wird der Besucher Schritt für Schritt mit der Ideenwelt von Viktor&Rolf vertraut.
Kunsthalle München & Mode
Die Ausstellung wurde von der Kunsthalle München in Zusammenarbeit mit dem kanadischen Kurator Thierry-Maxime Loriot entwickelt. Loriot kuratierte schon zuvor Mode-Ausstellungen in dem Münchner Ausstellungshaus: 2015 „Jean Paul Gaultier. From the Sidewalk to the Catwalk“, 2017 „Peter Lindbergh. From Fashion to Reality“ und 2020/2021 „Thierry Mugler. Couturissime“. Thierry- Maxime Loriot arbeitete für diese Ausstellung mit Maison Viktor&Rolf und L'Oréal Luxe zusammen. Die Schau „Viktor&Rolf: Fashion Statements“ ist in eine Reihe von Räumen mit unterschiedlichen Konnotationen unterteilt. Willkommen heißt den Besucher eine Puppe mit nach oben gezogenem, versteiftem Rock. Die Installation heißt „Late Stage Capitalism Waltz“ und bezieht sich damit auf die Beobachtungen von Werner Sombart und seiner Theorie der modernen Bedarfsermittlung. Vereinfacht sagte Sombart in seiner Schrift „Wirtschaft und Mode“ schon 1902: „Die Mode ist des Kapitalismus liebstes Kind“ und bis heute stellt uns die rasante Umlaufgeschwindigkeit in der Modewelt vor - große - Probleme. Doch ohne das ständige Produzieren von Kollektions- und Massenware wäre die globale Textilindustrie wirtschaftlich nicht erfolgreich. Von der Haute Couture lässt sich nicht leben.
Obwohl Viktor&Rolf auch auf dem Gebiet Ready-to-Wear tätig waren und sind, steht bei ihnen die Haute Couture, die Modetheoretiker ohnehin der Kunst zuordnen (Gertrud Lehnert), im Vordergrund. Viktor&Rolf sind Künstler und haben eine besondere Wahrnehmung der Modewelt. Darauf stimmt „Late Stage Capitalism Waltz“ ein und das lässt sich in der Ausstellung an vielen Details ablesen. In der Pressekonferenz, an der die beiden Modeschöpfer teilnahmen, wurde mehrfach betont, dass einfache Modetrends und Verkaufszahlen für ihre Arbeit eigentlich nicht der Maßstab sind. Dennoch ist die Haute Couture immer auch der größte Werbe- und Marketingsfaktor für ein Modehaus, um auch das Ready-to-Wear erfolgreich auf dem Markt zu lancieren.
Wer sind Viktor&Rolf?
Viktor&Rolf ist ein niederländisches Avantgarde-Luxusmodehaus, das 1993 von Viktor Horsting und Rolf Snoeren gegründet wurde. Seit mehr als zwanzig Jahren hinterfragen Viktor&Rolf die Haltung der Mode. In ihrer Ready-to-Wear-Kollektion entwerfen sie Kleidung, aber ihr Fokus liegt auf der Arbeit an Kunstwerken. Oftmals beziehen sie auch perfomative Künste ein.
Viktor Horsting und Rolf Snoeren lernten sich 1989 während ihres Studiums an der Hochschule für Kunst und Design in Arnheim kennen. Im Jahr 1992 begannen die beiden zusammenzuarbeiten und zogen nach Paris. Viktor&Rolf passten anfänglich nicht in die klassische Modebranche. Dafür nahm die Kunstszene sie gerne auf. Im Jahr 2000 gründeten Viktor&Rolf ihr Unternehmen und begannen, ihren künstlerischen Ansatz auch auf ihre Konfektionskollektionen zu übertragen.
The fat Credit Crunsh
Wenn sich die Modewelt seit 1900 mit dem Aufkommen des Großunternehmertums und der Massengesellschaft zu einem „Kapitalistischen Walzer“ entwickelt hat, so geht es zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch viel rasanter weiter. So erzählt der erste Raum von den Zeiten des „Credit Crunsh“ in 2008. Den spürte auch die Modebranche im Highend der Haute Couture oder der Konfektion. Viktor&Rolf entwarfen im Fahrwasser der Finanzkrise von 2008 für ihre Haute Couture-Linie im Jahr 2010 die „Immaculate Collection“. Sie bezeichneten die Entwürfe als „Credit Crunch Couture“, denn in dieser Zeit wurden Budgets und Kosten für die Produktionen zusammengestrichen. Sie lieferten wegen der Wirtschaftslage auch die Fashion-Objekte entsprechend fragmentarisch oder „unvollkommen“. Dazu gehörten Kleider mit „Cut Outs“, in denen Stellen fehlten, oder geteilte und aufgeschnittene Kleider. War das Wirtschaftssystem verwundbar, so war es die Mode auch.
Zeitgenössische Pandora-Puppen: Viktor& Rolfs Russian Dolls
Puppen haben eine große Bedeutung in der Modegeschichte. Sie reisten seit dem 14. Jahrhundert mit Stoff- und Kleidermodellen durch das höfische Europa. So konnte man, auch ohne das später erfundene Modejournal, Modelle und Stoffe präsentieren. Ende des 18. Jahrhunderts verwendeten Näherinnen, Schneider und Modehändler sie, um über ihre Regionen hinweg die neuesten Modetrends zu präsentieren. Dann wurden die ersten Mode-Illustrierten gegründet und der Couturier Charles Frederick Worth führte in den 1850er-Jahren schließlich lebende menschliche Modelle ein. Viktor&Rolfs „Russian Dolls“ sind Erinnerungsstücke an eine performative Modenschau (F/W 1999), an der sie selbst aktiv teilnahmen. Sie trugen das Supermodel Maggie Rizer auf den Laufsteg und zogen ihr nach und nach neun Kleider übereinander an – auch eine kleine Reminiszenz an die Matrjoschkas, die übereinander gestapelt werden können. Das erste untere kurze Kleid bestand aus Jute, zu den letzten Oberflächen wurde das Material immer kostbarer. In der Ausstellung zeigen nun neun Puppen diese Kleider.
Art & Language im Spiegelsaal
Der kommende Raum erinnert an den modeträchtigen Spiegelsaal von Versailles, in dem sich einst das Fashion Victim Louis Quartorze inspirieren ließ oder auch mal Trendsetter wurde. Hier steht ein buntes Arrangement aus Tüllroben auf Puppen. Doch sie sind nie das, was sie auf den ersten Blick scheinen. Fast jedes Mal ist die Robe kombiniert mit Zitaten. Stehen die für die Gedanken der potentiellen Trägerin? Nicht Verführung, die Rolle, die Mode bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein in höfischen oder auch großbürgerlichen Kreisen hatte, sondern Ablehnung des Gegenübers gibt den Ton an. Die Sprüche lassen an die Künstlergruppe "Art & Language" denken und sind ambivalent und provokant. Dient die Gala Robe traditionell der Repräsentanz oder der Verführung, so wird sie durch die Texte unhöflich, ausladend. Was zu lesen ist? „I am not shy but I don´t like you“ oder „Go to hell“ oder „Sorry I´m late I don´t want to come“. Ein großes rotes „NO“ prangt auf einem blauem, überdimensional großen plüschigen Tüllkleid, das den weiblichen Puppenkörper total überformt und auch für den Gender Shift in der Mode stehen mag. Denn: Hier ist gar kein weiblicher Körper, hier heißt es einfach NO. Ganz versöhnlich und fast traditionell mutet die weiße Robe an, auf der in roten schwungvollen Lettern steht: „I love you“. Ein Hochzeitskleid für die Braut, die sich traut?
Große Bühnenkunst: Der Freischütz
Zu den großen Themen der Modeschöpfer gehört seit jeher die Bühne. Von Coco Chanel bis Tim van Steenbergen – viele Modedesigner brachten großartiges Kostüm und
damit große Kunst auf die Bühne. Bei Viktor&Rolf sind es weiße kurze Tutu-Kleider mit vielen Schichten Tüll für das Ballett und die Kostüme für die romantische Oper „Der Freischütz“ von Carl
Maria von Weber. 2009 hatte sie unter der Regie von Robert Wilson 2009 im Festspielhaus in Baden-Baden Premiere. Auch hier ist Kostüm Sprache und das Prinzip „Art & Language“ kommt noch
einmal vor: Der reiche Bauer Kilian trägt eine aus einem Schriftzug bestehende Halskrause, die immer Ausdruck von Würde und Stand war. „Bauer“ können wir lesen, nicht nur, um den Handlungsstrang
zu verfolgen.
Informationen:
Kunsthalle München, Viktor&Rolf. Fashion Statements, February 23 until October 6, 2024
https://www.kunsthalle-muc.de/viktor-rolf/
Credits wie angegeben.